Das mit der Brieftasche müsse man ihr schon erklären, ereiferte sich eine Dame auf Facebook. Wenn da mal nicht wieder irgendeine Ungereimtheit vertuscht werden solle.
Wir erinnern uns: Ein Attentäter hatte einen Sattelschlepper gekapert, den Fahrer ermordet und mit dem Fahrzeug ein Massaker unter den Besuchern eines Berliner Weihnachtsmarkts angerichtet...
Als Spurenfachleute später die Kabine untersuchten nach Hinweisen auf den bis dato noch flüchtigen Täter, stießen sie auch auf die besagte Brieftasche und darin auf einen Ausweis – der dem Flüchtigen einen Namen gab, wie sich rasch bestätigte.
Was die Facebook-Dame so misstrauisch gemacht hatte, war der Umstand, dass die Polizei die Brieftasche nicht sofort gefunden hatte und deshalb 24 Stunden lang einem unschuldigen Pakistaner auf den Zahn fühlte. Offenbar war die Dame davon überzeugt, dass Spurenprofis einen Ausweis sofort finden müssten, wo er doch so wichtig war und wo ein tunesischer Terrorist die Fahnder sogar mit der Nase auf die eigene Fährte gesetzt hatte, indem er seinen Ausweis im Führerhaus des Lasters irgendwie zurückließ. Und doch war er anderthalb Tage unentdeckt geblieben. Konnte das mit rechten Dingen zugehen?
Es konnte! Und das hätte sich auch erschließen lassen nach allem, was bis dahin bekannt war: ein blutverschmiertes Fahrerhaus mit einem Toten oder Sterbenden auf dem Beifahrersitz; ein blutjunger Terrorist, der den schweren Wagen wohl nur mit Mühe beherrschte, mit einer Hand womöglich, weil er in der anderen die Pistole oder sein Handy hielt; eine eingedrückte, blindgesprungene Frontscheibe, draußen außerdem berstende Buden, schreiende Menschen – Aufregung und Durcheinander müssen enorm gewesen sein und die Kabine am Ende alles andere als übersichtlich und aufgeräumt.
In diesem Chaos rutscht eine Brieftasche aus Jacke oder Hose des Täters und gleitet ins Dunkel des Fußraums. Aus diesem Chaos türmt er schließlich, aus diesem Chaos bergen Retter einen Toten oder Sterbenden, in diesem Chaos bemühen professionelle Spurensucher sich darum, einen möglichst guten Job zu machen, nichts zu übersehen, aber auch nichts zu zerstören, was zum Täter führen könnte. Wem fiele da sofort ausgerechnet die Brieftasche ins Auge?
Eigentlich keine gewaltige Überlegung, weder erschwert durch Details, die bis dato nicht an die Öffentlichkeit gedrungen waren, noch durch kriminalistisches Fachwissen – etwa darüber, dass die Kabine aus gutem Grund zunächst versiegelt und erst nach Abtransport des Lasters genauer untersucht worden war: Spürhunde hatten zuvor ihre Nase hineinhalten sollen, um den reinen Schweiß der letzten Insassen aufzunehmen, möglichst unverfälscht durch den Geruch der Spurensicherer. So akribisch packen Profis das nämlich an.
Selbst ohne solche Profikenntnisse ist es alles andere als naheliegend, dass die Polizei hier etwas zu verbergen gehabt hätte. Die Spurensucher haben die Brieftasche eben erst gefunden, als alles Wichtigere getan und es möglich war, auch den Fußraum abzusuchen. Diese Erkenntnis erfordert nur ein bisschen Kühle im Kopf, sodass eins und eins sich gut zusammenzählen lassen.
Aber wie ernüchternd ist genau dies, und wie berauschend hingegen das Geheimnisvolle und schwer Erklärbare? Schlamperei, Unvermögen und Vertuschung taugen weit mehr zum Drama als Realitätssinn und Denkfleiß. Erwiesene Tatsachen sind da eher hinderlich. Wir lieben das Drama, das Rätselhafte, das Unglaubliche, die Sensation. All dies fesselt und unterhält uns, treibt uns in Kinos und Buchläden. Solange wir diese Droge dort verantwortungsvoll konsumieren, ist daran nichts auszusetzen. Wer sie aber auch im Alltag braucht, riskiert Glück, Menschenleben und den Weltfrieden.
Was anderes ist der Berliner Terroranschlag als der Wunsch, einem eher zweifelhaften Leben als Kleinkrimineller mit Donnergetöse eine romanhafte Wende zu geben zum Helden und Märtyrer?
Wie anders sollte der zähe Eifer sich erklären, mit dem eine ansehnliche Zahl von Menschen Verschwörungstheorien anhängt und hinter allem und jedem geheime Kräfte und „die da oben“ am teuflischen Werk sieht. Klar, es gab und gibt Verschwörungen, geheime Zirkel, die etwa Hitler und Julius Cäsar ermorden wollten. Und es ist absolut realistisch, dass genau in diesem Moment unter uns sieben Milliarden Menschen auf der Erde manch verschworener Trupp im Stillen fiese oder verrückte Ziele verfolgt. Und natürlich bleiben diese Leute möglichst unentdeckt und undurchschaubar: Geheimdienste, Hacker, die Mafia – und wer nicht alles.
Aber Chemtrails? Mit Flugzeug-Abgasen versprühte Chemikalien, die die Menschheit manipulieren sollen? Und die deshalb auf alles und jeden herabrieseln, auch auf die heimlichen Initiatoren selbst und deren Angehörige und Kinder – es sei denn, sie lebten permanent im Flugzeug. Wer solch einen Unfug glaubt, den hat die Sucht nach Schauermärchen schon gut im Griff.
Und ist es nicht auch Dramensucht, die Esoteriker, Wundergläubige und religiöse Eiferer dazu treibt, unter allen denkbaren Erklärungen für ein Rätsel die mystischste heranzuziehen? Eine Erklärung etwa, die eine „höhere Macht“ hinzufantasiert. Nehmen wir dazu doch einfach mal ein profanes Beispiel: Statt eine Magen-Darm-Epidemie als Folge einer von Zeit zu Zeit kaum vermeidbaren Infektion mit Krankheitserregern zu betrachten, würde ein Mystiker sie stilisieren zum Fingerzeig Gottes oder des Universums, dazu gedacht, die Menschen notfalls auf der Toilette zum Nachdenken zu bringen über ihr bewegtes Innenleben. Hier verkehrt die Lust am Obskuren Ursache und Wirkung. Der Wundergläubige denkt, ihm sei eine Botschaft „von oben“ zugedacht und deshalb habe er Dünnpfiff. Klug und realistisch wäre: Ich habe mich wohl irgendwo angesteckt – lass doch mal überlegen, wo der Keim gelauert haben und wie ich in Zukunft widerstandsfähiger werden könnte.
Je länger ich es bedenke, umso plausibler scheint mir, dass vermutlich jeder Mist, den wir Menschen auf der Erde anrichten, sich zurückführen lässt auf unsere klammheimliche Lust, irgendein Drama oder Heldenepos zu inszenieren. Herrschsucht, Größenwahn, Krieg, Gier, Terrorismus passen spielend in diesen Gedanken: Treibt nicht Russlands Präsidenten Putin die Vorstellung, dereinst als zarengleicher Herrscher in den Geschichtsbüchern zu stehen, die erzählen, wie er Russland das Erbe der zerfallenen Sowjetunion verschafft hat? Was für ein Filmstoff! Funktioniert übrigens auch, wenn man dieselbe Geschichte mit Erdogan, der Türkei und dem Osmanischen Reich erzählt. Beides sind Dramen reiner Unvernunft! Den Russen wie den Türken wäre weit mehr geholfen, wenn ihre Länder einen langen Wirtschaftsboom hinlegten. Stattdessen berauschen sie sich am Klischee vom gefallenen Helden, der sich aus der Umzingelung von Feinden zu neuer Größe kämpft. Great again – das ist auch die Story des neuen amerikanischen Präsidenten: alles zusammen Storytelling übelster Sorte.
Offensichtlich kann man das aber mit einer Masse von Menschen machen. Wer seine Pläne dramaturgisch gut verpackt, sie etwa in unglaubliche Geschichten zu kleiden vermag, der hat alle Chancen auf zahlreiche Gefolgschaft. Seltsamerweise stören hierbei selbst offene Ungereimtheiten nicht. Die Vorkämpfer für den Austritt Großbritanniens aus der EU, Boris Johnson und Nigel Farage, durften offen lügen und hatten am Ende trotzdem Erfolg. Einmal auf Drama-Droge, und der Mensch sieht und glaubt und versteht, was er sehen und glauben und wahrhaben will. So funktioniert die postfaktische Welt.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Dramen gehören zum Leben. Geschichten um Liebe, Leid, Hass und Heldentum finden sich überall. Sie lassen sich kaum mit der Vernunft beherrschen und schaukeln uns schon im Alltag gewaltig zwischen Glück und Schmerz. Mir jedenfalls genügt das vollkommen, ich erspare es mir daher, mein Leben zusätzlich zu dramatisieren, indem ich mich schrägen Theorien ausliefere. Viele von ihnen lassen sich durch Denkfleiß und gesunden Menschenverstand auf den Boden der Tatsachen zwingen. Okay, das meiste davon ist hinterher nicht mehr filmreif, ich selbst gelange dadurch allerdings zu einer angenehmen Gelassenheit.
Was aber macht den Streifzug meiner Überlegungen zu einem Thema für den Kommunikationsphilosophen?
Bei Menschen mit übermäßigem Hang zu Drama und Mystik steht ja zu befürchten, dass sie innerlich alles und jedes danach durchforsten, ob und wie es sich in ihre Welt einfügt. Sie werden Gehörtes, Gelesenes, Gesehenes nur danach auslegen, es notfalls dramatisch anreichern und mystisch aufbereiten. Damit machen sie sich die äußere Welt für ihre inneren Bedürfnisse zurecht.
Natürlich versucht auch der Vernunftmensch, jeden neuen Puzzlestein an Information in sein Weltbild einzupassen. Allerdings zeigt er sich bei der Kommunikation offen fürs Lernen und für Horizonterweiterung, während Mystik-Junkies nur mehr immer neuen Stoff suchen, der ihre fixen Ideen bestätigt. Kommunikation mit Vernunftmenschen gestalten sie zu einer Tortur. Wer ein Beispiel dafür sucht, sehe sich auf der Facebook-Seite der Süddeutschen Zeitung (SZ-online) unter #DD0702 den vergeblichen Versuch des sächsischen Wirtschaftsministers Martin Dulig an, vor der Dresdner Frauenkirche mit einer Pegida-Sympathisantin in ins Gespräch zu kommen.
Die Dame produziert sich zwar mit einer Suada an empörten Vorwürfen, aber auch mit der unübersehbaren Absicht, ein Gespräch eben gerade zu vermeiden. Schon das angebotene Zuhören scheint ihr bedrohlich, sie klammert sich an den Konflikt zwischen denen „da oben“ und deren Opfern, zu denen sie sich zählt. Dieses Weltbild will sie nicht gefährden. Es gestattet ihr, sich zu ereifern und genau das gibt ihr Sinn. Am Ende flieht sie sicherheitshalber in die Gesellschaft umherstehender Gleichgesinnter.
Wer zu Debatten mit Mystik-Junkies entschlossen oder gezwungen ist, dem helfen diese fünf Tipps:
1. Suchen Sie das Gespräch unter vier Augen. Vor gleichgesinntem Publikum ist es so gut wie ausgeschlossen, dass sie Vertrauen gewinnen und Ihr Gegenüber sich auf Sie einlässt.
2. Fragen Sie haarklein nach. Mystik-Junkies sind denkfaul. Verallgemeinerungen à la „die da oben“ und „höhere Mächte“ ersparen es ihnen, sich akribisch mit Details auseinanderzusetzen. Nehmen Sie den Gesprächspartner also geistig an die Hand und denken Sie laut mit ihm, etwa: „Wenn ich versuche mir vorzustellen, was im Führerhaus des entführten Lastwagens in den letzten Minuten so passiert sein könnte…“
3. Halten Sie sich zurück mit Bewertungen. Kruden Ideen begegnet man besser, indem man sie probeweise als richtig annimmt und dann ihre Voraussetzungen und Folgen ad absurdum führt: „Okay, es gibt also Flugzeuge, die absichtlich Schadstoffe über uns versprühen. Wie schützen die Hintermänner sich und ihre Familien davor?“
4. Erwarten Sie keinen Debattensieg oder eine sofortige Läuterung Ihres Gesprächspartners. Respekt, Wertschätzung und gemeinsames Durchdenken von Details werden nachwirken. Vertrauen Sie darauf.
5. Bleiben Sie beharrlich. Wenn’s eng wird und Denkexperimente das ideologische Fundament Ihres Gegenübers zu erschüttern drohen, wird er versuchen, das Thema zu wechseln. Sie brauchen ihm das nicht leicht zu machen, aber verbeißen Sie sich nicht in den Versuch, ihn festzunageln. Konfrontieren Sie ihn auch in dem Ausweichthema mit derselben Haarklein- und Denken-wir-das-mal-durch-Strategie. Was zählt, sind der Denkanstoß und die Langzeitwirkung.
Findet dramatisch grüßend,
der Kommunikationsphilosoph
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Laura Brander (Freitag, 17 Februar 2017 11:24)
Ein wunderbarer Rundumschlag zu den Querelen in einer - tatsächlich! überwiegend postfaktisch agierenden - Welt, die uns doch täglich fassungsloser macht. Mich zumindest.
So manches Mal habe ich in den vergangenen Monaten, eigentlich schon Jahren entgeistert auf diverse Verschwörungstheorien oder wirklichkeitsferne Auslegungsweisen reagiert. Da werden mit Sturheit und Kopf durch die Wand immer wieder und wieder längst überholte Theorien als angebliche Tatsachen präsentiert, aufgemischt und fünfmal durchgequirlt als neue Erkenntnis groß aufgebauscht.
Mit dem Effekt, dass andere Anhänger kruder Ideen, die sich offensichtlich schwer tun, eine Nachricht auf Glaubwürdigkeit zu überprüfen, abzugleichen, vielleicht wenigstens mal ins Impressum der besagten Seiten zu schauen, um festzustellen, dass da auch "Mainzelmännchen" als Verfasser stehen könnte und das doch vielleicht ein wenig unzureichend sein könnte, begeistert auf den Dramazug aufspringen. Fluor in der Zahnpasta, hochgiftig! (Sagen selbsternannte Spezialisten!) Chemtrails, die bösen Kondensstreifen am Himmel! (Natürlich, von suizidalen Regierungsmitarbeitern in Auftrag gegeben!) Aluminium in Impfstoffen, um uns alle zu töten und von der bösen Pharmaindustrie abhängig zu machen! (Fehlt der Blick auf die Robert-Koch-Seite und in die Verzeichnisse der Inhaltsstoffe).
Die Liste ist endlos, sie führt von vergleichsweise harmlosen uns allenfalls lachhaften Schnappsideen wie giftsprühenden Flugzeugen und selbstschädigenden Dummheiten wie der Verweigerung fluridhaltiger Zahnpasta (das sind ja nicht meine Zähne) über gesellschaftlich verantwortungsloses Handeln diverser Impfgegner leider aber eben aber auch zum "rebellischen" und "gesellschaftlichen" Aufbegehren selbst ernannter Volkredner, die internationale Beziehungen und diplomatische Zusammenarbeit ebenso ruinieren wie lange gewachsene Projekte und über Jahrzehnte ausgehandelte Friedensssicherungsmaßnahmen.
Aus persönlicher Erfahrung habe ich leider selbst mit dem oben vorgeschlagenen strategischen Vorgehen des Durchdenkens, zu Ende Denkens und dadurch in Frage Stellens der Verschwörungstheorien bislang nicht das Gefühl gehabt, tatsächlich einen Denkanstoß gegeben zu haben. Das ist mithin frustrierend, tragisch und führt stellenweise zu der traurigen Erkenntnis, dass Diskussionen auf einer solchen Ebene nicht mehr möglich sind. Der Grund: Die Basis stimmt nicht mehr überein.
Eine alte Schulfreundin schrieb vor kurzem, man habe sich früher auf eine gemeinsame Grundlage verständigen können. Das eine Blatt eher konservativ, das andere eher links-alternativ ausgerichtet, alle aber auf einer soliden Grundlage erstellt. Diese Basis aber ist weggebrochen, an vielen Stellen ersetzt worden durch ein gleichmäßiges Mischmasch diverser Informationsquellen ohne deren Überprüfung auf Fakten, Hintergrund, Seriosität und ethische Prinzipien. Es fehlt ganz grundsätzlich an den Kenntnissen, wie denn zu überprüfen ist - und eine Welt, in der ein hochdramatischer, respektloser und unflätiger Twitterbeitrag eines Trump, vollgepumpt mit Unwahrheiten und Anschuldigungen, die gleiche, womöglich eine höhere Verbreitung findet wie ein seriöser, anständig recherchierter Pressebeitrag (der ja tendenziös sein kann, wie dies Quellen immer schon waren, aber dessen Strategien nachvollziehbar sind) befördert den kritiklosen Umgang mit Veröffentlichungen.
Und ja, der Hang zum Drama macht es nicht besser. Deshalb, weil Empörung über "die da oben" und angebliche Ungerechtigkeiten natürlich das eigene Dasein theatralisch aufbereitet und mit etwas Glanz und Gloria anreichert... Weil der Mensch zum Drama neigt - und damit neuerdings sogar ernstgenommen wird. Ich frage mich: Was hat sich da geändert? Warum finden unhaltbare Theorien, wenn sie nur mit genügend Show vorgebracht werden, nur so wenig Widerspruch in der eigenen Logik?
Trotz allem darf der Dialog nicht enden, darf das Gespräch nicht versiegen. Das ist wohl die größte Gefahr: Dass unsere Welt sich aufteilt in Gruppen, die die Kommunikation miteinander verlernt haben. Wie sie gelingen soll, wenn die Grundlagen so unterschiedlich sind, bleibt die große Frage - und produziert eine Aufgabe, die gelöst werden will.
Bettina Huchtemann (Freitag, 24 Februar 2017 10:55)
Ich fasse mich kurz: Danke für diesen tragikomischen klugen Beitrag.